Roderich war seit jeher ein Mann, der glaubte den Krieg zu riechen, wie andere den Regen. Wenn der Wind aus dem Osten kam, schnupperte er mit der Nase wie ein alter Fuchs, hob die Brauen und sagte mit Grabesstimme: „Jetzt wird’s ernst.“
Er war nicht mehr der Jüngste – seine Knie knackten wie brüchiges Parkett, seine Ansichten waren aus der Bronzezeit, aber seine Stimme war kräftig, wenn er im Parlament, im Fernsehen oder einfach beim Bäcker seine Lieblingsformulierung rezitierte: „Wir müssen den Spannungsfall ausrufen!“
Niemand wusste so recht, was das bedeutete, aber es klang gefährlich – wie ein militärischer Rülpser aus einem längst vergessenen Paragraphendschungel. Und das war es auch. Roderich hatte sich über Jahrzehnte durch das Grundgesetz gefräst wie ein Maulwurf mit Abitur, stets auf der Suche nach dem idealen Moment, Kriegslaune auch bei anderen zu wecken.
Früher war er bei der Bundeswehr, aber das ist weit nicht so tragisch wie es klingt. Die meiste Zeit verbrachte er damit, Akten zu sortieren, Helme zu polieren und auf Karten zu deuten, während andere Kaffee tranken. Doch in seiner Vorstellung war er Clausewitz persönlich – nur mit weniger preußischen Attributen und mehr PowerPoint-Präsentationen.
„Ich ziehe in den Krieg!“, sagte er eines Morgens zu seinem Spiegelbild, während er sich die Krawatte mit einem NATO-Knoten band. Niemand nahm ihn ernst. Auch nicht, als er sich selbst zum Kriegsminister seiner Straße ernannte, eine gebrauchte Uniform trug und die Nachbarn mit einem Megafon über „hybride Bedrohungslagen“ informierte.
Dann passierte das Unerwartete: Die Medien – müde von echten Skandalen – entdeckten Roderich. Ein Sender schenkte ihm eine Talkshow mit dem Titel „Roderichs Realitätsschock“, und plötzlich wollten alle wissen, was er zu sagen hatte. Seine Forderungen wurden nicht mehr nur belächelt, sondern beklatscht. Einige nannten ihn sogar den „Verteidigungs-Opa der Herzen“. Das beflügelte ihn. Sein Moment war da. Es galt ihn zu nutzen.
Er trat auf Bühnen, schwitzte unter Scheinwerfern, hielt Reden mit Titeln wie: „Frieden ist auch nur ein Waffenstillstand mit schlechter PR“ und „Der Frieden muss bewaffnet sein, sonst ist er nackt“.
Der Eingängigkeit halber rief er immer wieder: „Spannungsfall!“ und „Die Bedrohung ist real!“.
Aber als man ihn fragte, wer genau die Bedrohung sei, stammelte er etwas von „…äh… asymmetrischen Kräften, die sich in unseren moralischen Fundamenten einnisten wie Schimmel in einer Altbauwohnung“. Das klang klug. Also klatschten sie weiter. Den Spannungsfall übernahmen viele in den eigenen Wortschatz. Mit dem Spannungsfall-Leugner hatte man endlich wieder ein neue gemeinsames Feindbild. Roderich sei Dank.
Und dann, eines Abends, saß er allein auf der Veranda seines Häuschens, starrte in den Himmel, in dem keine Drohnen flogen. Es rollten keine Panzer und es herrschten keine Spannungen – nur Stille.
Er nahm einen Schluck Bier, das er überzeugt „Feldlager“ nannte und murmelte: „Vielleicht… vielleicht hab ich das alles nur erfunden, weil mir sonst niemand zugehört hätte.“ Die Nacht war mild, der Krieg blieb aus, der alte Roderich wurde müde und begab sich in den Ruhestand.
Dies zum Anlass nehmend, schrieb eine Zeitung: „Friedensprovokateur Roderich – endlich im Ruhestand.
Er ruft nicht mehr. Das war sein letzter aktiver Spannungsfall“.
Blick in die Zukunft: Man wird erzählen, Roderich sei im Altersheim oft in Uniform herumgelaufen, habe Etagenkollegen gründlich gemustert und mit dem Pflegepersonal Manöverpläne besprochen und dabei stets darauf bestanden, dass das Pflegebett „taktisch ungünstig“ stehe. Aber er war friedlich. Vielleicht, weil er endlich jemanden hatte, der ihm zuhörte – auch ohne Krieg.
Moral? Manche Menschen brauchen Krieg und andere Katastrophen nur, damit sie nicht allein sind mit ihrem Lärm.
Und manchmal… ist der lauteste Ruf nach dem Spannungsfall nur ein ganz leiser Schrei nach Aufmerksamkeit.