Wer Angst hat, ist steuerbar. Angst ist ein perfides Werkzeug – sie braucht keine Logik, kein Argument, nur ein Gefühl. Ist ein Volk dafür empfänglich, wird es zur leichten Beute. Haben die Deutschen ein „Angst-Gen“? Im wörtlichen Sinne natürlich nicht, doch die letzten Jahre legen nahe, dass hierzulande mit und durch Angst besonders gut regiert wird. Ist ein „gemeinsamer Feind“ gefunden, scheint die gelenkte Gruppendynamik ihren unerbittlichen Lauf zu nehmen. Irrationalität schlägt Vernunft, sobald die Furcht zuschlägt. Russophobie – die oft grundlose Abneigung gegen Russland – ist dafür ein Paradebeispiel. Woher kommt sie? Ein Blick in Geschichte, Kultur und Ethnos zeigt, dass sie tief sitzt.
Von Napoleon bis zum Kalten Krieg
Die Vergangenheit formt uns. Als Napoleons Armeen 1812 Europa überrannten, trat Russland als Machtfaktor auf – die zaristische Armee zerschlug die Grande Armée. Für die zersplitterten deutschen Staaten war Russland damals ein Rätsel. Es galt als stark, aber fremd, ein „barbarischer Osten“. Der Erste Weltkrieg machte Russland zur Bedrohung und zum Feind. Nach 1918 entstand aus politischer Gegnerschaft mit Gründung der Sowjetunion ideologische Angst – der „rote Osten“ war geboren.
Der Zweite Weltkrieg riss die Wunde auf: Die Ostfront, Millionen Tote, die sowjetische Besatzung Ostdeutschlands – ein Trauma, das noch heute nachhallt. Der Kalte Krieg setzte den Schlusspunkt. Die UdSSR wurde zum „totalitären Osten“, die Bundesrepublik zum Westen. Russland blieb der „Andere“ – ob zaristisch, sowjetisch oder postsowjetisch. Das Unbekannte nährte Angst und die Deutschen lernten, es abzulehnen.
Narrative der Fremdheit
Kulturell klafft ein Graben zwischen „Westen“ und „Osten“. Russland gilt hier als Zwitterwesen – halb Europa, halb Asien, weder ganz zivilisiert noch völlig wild. Edward Saids Orientalismus lässt grüßen. Dostojewskis Werke, in Deutschland verehrt, wurden zur „russischen Seele“ stilisiert, die als tief, chaotisch und unberechenbar schien. Gleichzeitig malten Karikaturen und Berichte ein Bild von „russischer Rückständigkeit“, um eigene Überlegenheit zu suggerieren.
Die Sprache verrät viel über verankerte Stereotypen. So stehen „Russische Verhältnisse“ hierzulande für Chaos und Despotismus. Diese Mythen überdauern, weil sie im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Nach 1991, als die Sowjetunion zerfiel, blieb Russland das Land der Extreme – Oligarchen, Armut, Putin. Hollywoods „böser Russe“ fand in Deutschland fruchtbaren Boden. Die kulturelle Kluft ist kein Zufall, sie ist menschengemacht.
Das „Wir“ gegen das „Sie“
Ethnologisch ist Russophobie eine Identitätsfrage. Der deutsche „Volksbegriff“ – Sprache, Kultur, Herkunft – schließt das Russische aus. Nationen brauchen ein „Anderes“ und für Deutschland, das sich nach 1945 im Westen verortete, wurde Russland zum Gegenpol. Slawisch, orthodox, autoritär gegen germanisch, christlich, demokratisch. Schwarz-Weiß-Denken in Reinkultur.
Kontakte gab es – Wolgadeutsche, russische Emigranten nach 1917 – doch die Fremdheit schwand nicht. Das Russische wurde romantisiert („exotisch“) oder verteufelt („bedrohlich“). Stereotype wie „russische Unordnung“ oder „russische Härte“ halten die Distanz lebendig.
Politik und Emotion heute
Putins Politik facht die Glut neu an. Der Ukraine-Krieg seit 2014, die Invasion 2022 – alte Ängste lodern hoch. Medien und Politik stilisieren Russland zur militärischen, digitalen und energetischen Gefahr. Doch vieles ist irrational. Der „russische Bär“, „Putins Aggression“ – das sind emotionale Trigger, keine Analyse. Kritiker warnen, dass die Russophobie Dialog blockiere und pauschal dämonisiere.
Es gibt Gegenstimmen. AfD und BSW sehen eine westliche Übertreibung, die diplomatische Chancen verspielt – Bismarck hätte genickt. Doch die Mehrheit bleibt bei dem geschichtlich gewachsenen und aktuell politisch geschürten Unbehagen. Angst siegt über Pragmatismus und Diplomatie.
Eine selbstgezimmerte Mauer?
Russophobie ist kein Zufall. Sie wuchs in Jahrhunderten der Abgrenzung – durch Kriege, Narrative und Identität heran. Sie reagiert weniger auf das heutige Russland als auf historische Echos. Das vereinfacht sehr stark, denn Russland ist weder nur Feind noch ein verkanntes Genie.
Eine kluge Politik müsste diese Schablone zerbrechen und differenziert betrachten, doch es fehlt der Mut zur Selbstreflexion. So bleibt die Russophobie ein deutscher Filter – sie sagt mehr über uns als über „die da drüben“. Angst mag steuern, aber sie blendet auch. Wir sollten uns selbstreflektiert fragen: Wovor rennen wir eigentlich weg und wer lenkt unsere Ängste?